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Das Loch in Hildegards Kanne

Amerikaner und Kilianstädter Mädchen auf Motorrädern. Repro: Ursula Erbacher
Amerikaner und Kilianstädter Mädchen auf Motorrädern. Repro: Ursula Erbacher

Die letzten Wochen vor der Kapitulation Deutschlands waren von Angst und Nazi-Willkür geprägt. Als die Befreier schließlich kamen, hatte die Bevölkerung zunächst mächtig Angst vor den Amerikanern.

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Schöneck. Und dann waren sie da – die Amerikaner. „Es gab kein Sirenengeheul, keine Tiefflieger und keine Bombenabwürfe mehr“, erinnert sich der damals 14-jährige Ludwig Wacker aus Kilianstädten. Mit dem Einmarsch der amerikanischen Soldaten in Kilianstädten am 28. März 1945 wurde für viele aus Angst Hoffnung.

Wie die letzten Wochen und Monaten vor Kriegsende aussahen, lässt sich zum Beispiel im Gemeindeprotokoll vom 6. Januar 1945 nachlesen: Bei einem Nachtangriff englischer Bomber fielen in der Gemarkung Kilianstädten fünf Luftminen, 17 Sprengbomben, ein Blindgänger (am Lichthäuschen im heutigen Kranzbergring) und etwa 2000 Stabbrandbomben mit Sprengsatz. Ein Wohnhaus in der Bahnhofstraße 11, zwei Wohnungen in der Bahnhofstraße 9 mit Wirtschaftsgebäuden und ein Haus in der Hanauer Straße 28 wurden dabei beschädigt. Personen kamen nicht zu Schaden.

Sie schossen auf alles

Vier Tage zuvor, bei der Schulentlassung des Jahrgangs 1930 / 31, forderte der Lehrer Adamy, der auch Geschäftsführer der NSDAP war, dass sich alle 1930 geborenen Jungen in Hanau-Wilhelmsbad zur Musterung melden müssten. Die Buben waren erst 14 Jahre alt.

Auf dem Fußweg dorthin begegneten ihnen immer wieder Scharen von Menschen aus Frankfurt auf der Flucht. „Flieger schossen auf alles, was sich bewegte“, berichtet Kurt Lotz. In Kilianstädten pflückte die zehnjährige Anna Repp am Neuberg Blumen und wurde auf freiem Feld erschossen. Groteskerweise wurden die Bürger in Propagandasendungen übers Radio vor den Amerikanern gewarnt: Es seien Misshandlungen, Nötigungen und Vergewaltigungen durch die Besatzer zu erwarten.

Mit dieser Angst im Nacken wurden noch vor Eintreffen der „Feinde“ viele Dokumente, Parteibücher, Fahnen, Hakenkreuze oder Hitler-Literatur verbrannt. Junge Frauen und Mädchen wurden so verkleidet, dass sie wie Großmütter wirkten. Lebensmittel wurden in Scheunen, Kellern oder Dachböden versteckt, aus Angst vor Plünderung, Schändung und Missbrauch. Dass es dann ganz anders kam und sich die humanitäre Seite der Amerikaner zeigte, war für alle Bewohner überraschend. Ludwig Wacker aus der Pfarrgasse erinnert sich: „Beim Füttern unserer Tiere am Morgen des Einmarsches gegen sechs Uhr hörte ich aus der Ferne Schüsse und Motorengeräusche. Mit der Milch auf dem Handwagen traf ich Hildegard Vollmer am Platz der Republik. Während wir sprachen, fielen Schüsse aus Richtung Ortseingang. Auf einmal gab es einen großen Knall und wir sahen mit Entsetzen, dass ein großes Loch in Hildegards Kanne war.“

Einige Bewohner mussten ihre Wohnungen räumen, dort wurden amerikanische Soldaten einquartiert. Gegner der NSDAP wurden kurzfristig zur Unterstützung der Besatzer eingesetzt. Die Leitung der Mühle wurde dem Besitzer und NSDAP-Mitglied Heinrich Thylmann entzogen. Parteimitglieder, Nazi-Anhänger und die Hitlerjugend mussten unter Aufsicht Bombentrichter auf den Feldern zuschaufeln.

Nylons und Hautcremes

In den beschlagnahmten Häusern wurde nicht geplündert oder zerstört. Offenbar haben sich die amerikanischen Soldaten freundlich und zivilisiert verhalten. „Wir waren so überrascht, wie locker die GIs auch zu ihren Vorgesetzten waren. Das kannten wir ja gar nicht“, erzählt Kurt Lotz. Frauen und Mädchen wurden von den GIs ins Kino eingeladen, mit Nylonstrümpfen und Hautcremes beschenkt. „Wir haben bis zum Schluss an das Nazi-Regime geglaubt“, berichtet noch immer sichtlich betroffen Wacker, und Kurt Lotz ergänzt: „Was waren wir dumm, dass wir alles geglaubt haben, und ich kann nicht verstehen, dass sich heute Jugendliche von rechtspopulistischer Propaganda blenden lassen.“ (ure)

Mehr Informationen zur Arbeitsgruppe Ortsgeschichte unter www.schoeneck.de.