Seine Gedichtbände haben so sinnliche Titel wie „Wenn Du willst, vergiss“, „Kein Schweigen bleibt ungehört“, „Wer springt schon aus der Schiene“, „Was noch blieb von Edom“ – rhetorische Fragen, die der Dichter Horst Samson selbstin seinen Gedichtbänden beantwortet: „Das Land schwimmt davon, sage ich dir und auf großen Geldscheinen rudern westwärts die Freunde“ („Regengedicht für Edda“, 1986) – so der Dichter vor seiner Ausreise 1987 nach Deutschland.
Eigentlich will Samson erinnern und nicht vergessen, erinnern an den Dezember 1989 (S.19), an den „Nachtwächter“ im Dorf (S.18), an „Weihnachten im Westen“ (S.17), an den „Frontabschnitt R“ (S.16), an Temeswar, seine letzte Heimatstadt, aus der „Keiner entkommt“ (S. 22), an eine „brennende Zeit“, eine „Durchgehzeit“ (S.24), an eine „Nacht im Donaudelta“, an einen „unvollendeten Dezember“ (S.35), an die Ankunft in Nürnberg: „1987 – Erster Ausgang“ und „Nürnberg im März“ (S. 38, 39). Horst Samson erinnert an die Vergangenheit, die erlebte Geschichte und Geschehnisse, an den „dritten Brief nach Hause“ S.43), an Orte, wie Tirgu Jiu mit einem ehemaligen KZ neben der endlosen Brancusi-Säule (81), an den Grenzbahnhof Curtici (1987, S.77), an Temeswar, den Wannsee mit Heinrich von Kleists Grab (S.97); aber auch an Personen: „für Rolf“, den Dichter Rolf Bossert, der sich 1986 im Aussiedlerwohnheim in Frankfurt aus dem Fenster in den Tod stürzte. Erinnerung steht im Mittelpunkt von Samsons Gedichten. Man könnte mit Jean Paul sagen, dass die Erinnerung auch für Samson das „einzige Paradies“ sei, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Erinnerungsliteratur ist die Samsonsche Lyrik und Prosa trotzdem nicht.
Der Dichter gibt der Erinnerung nur ein Bild für die Nachwelt, für die sehnsuchttragenden Leser, die Bilder zum Vergleichen suchen für ihre eigenen Erinnerungen, für die Neugierigen und die Entdecker einer vergangenen, aber nicht vergessenen Realität.
Seine Gedichte machen uns die Grenzen, die Begrenzungen, Einengungen des Daseins bewusst, die nicht nur im einstigen Kommunismus waren, sondern auch in der freien, neuen Welt anzutreffen sind: Einsamkeit, Schlaflosigkeit, Verlassensein usw.!
Stimmungsvoll und doch präzise, sachlich nüchtern, lyrisch und reimlos – klassisch modern präsentieren sich die 130 Gedichte dieses Bands, die nicht chronologisch geordnet, manche mit Jahreszahl der Entstehung, andere generell und allgemeingültig dastehen.
Die wunderbaren Wortspielereien, die dichten Stimmungsbilder Horst Samsons sind einzigartig und bleiben dem Leser im Kopf: seine Zweifel, seine Konflikte, seine Selbstüberprüfung, seine Hoffnung und seine Irrtümer.
Samson, der viele seiner Gedichte auch vertont hat und so manche Leser durch seine Gesangsauftritte verzaubert, hat im Brecht’schen Sinne auch einige, wenige Kreuzreimgedichte, wie die „Kofferlieder“ (S.79) oder „Kanzone“ (S.14), deren Metrum bereits beim Lesen die Melodie anklingen lässt: „Hab ein Eisenbett für die Nacht, / Liege über meinem Sohn, / Hab die Fremde zugemacht, / Flüchte in ein Saxophon.“ (S.79)
Den Gedichtband schließt mit einer kurzen Prosa Samsons „Die Endlosschleife“ ab – ein weiteres Erinnerungsstück an den Vater, Martin Samson, der in den „Weiten Russlands“ als Meldefahrer der SS und Nordland-Panzerdivision ein Foto auf einem schwarzen Motorrad der Marke NSU als Erinnerung aus dem Krieg mitbrachte. Dieses Foto begleitete den Vater in seinem weiteren Leben – als Erinnerungsstück in der Brieftasche. Auch der Sohn kommt nicht von diesem Bild des jungen Soldaten Samson los, der trotz Krieg, Deportation, Entfremdung von der Heimat glücklich und traurig zugleich zu sein scheint auf seiner NSU. Und wie der Vater sein Glück fand in diesem Erinnerungsstück, findet der Sohn sein Glück in diesen Erinnerungszeilen mit dem Bild des Vaters im Kopf, dem er eines seiner besten Gedichte widmete: „Pünktlicher Lebenslauf“. Samson, der als Generalsekretär des Internationalen Exil-Pen stets für die deutschsprachigen Autoren unterwegs ist, ist ein Banater, geboren in der Deportation in der rumänischen Baragansteppe und beheimatet in Kleintermin, dem Dorf nahe der ungarisch-serbischen Grenze. Er arbeitete bei der „Neuen Banater Zeitung“, gehörte zum Kreis der Temeswarer Literaturszene um Nobelpreisträgerin Herta Müller und Richard Wagner und war vor der Ausreise Redakteur der Bukarester Zeitschrift „Neue Literatur“.
Der wunderbare Gedichtband von Horst Samson „Kein Schweigen bleibt ungehört“ spiegelt eine „Generation in ihrem existentiellen Verständnis“ – wie er auf dem Rückumschlag schreibt!
Horst Samson: Kein Schweigen bleibt ungehört, Pop-Verlag, Ludwigsburg 2013, 155 Seiten, 14.90 Euro.