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„Wir hatten nur noch Angst“

Sie sind vor dem Krieg aus der Ukraine nach Petterweil geflüchtet (v. l.): Viktoria, Dmytro, Rostyslav und Dmytros Mutter Mariia . Dahinter der Mitinitiator der Hilfe »Hoffnung 2022«, Michael Hahn. Foto: Niehoff
Sie sind vor dem Krieg aus der Ukraine nach Petterweil geflüchtet (v. l.): Viktoria, Dmytro, Rostyslav und Dmytros Mutter Mariia . Dahinter der Mitinitiator der Hilfe »Hoffnung 2022«, Michael Hahn. Foto: Niehoff

Karben. Dankbarkeit für die Aufnahme in Deutschland, aber doch noch Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in ihre Heimat – diesen Satz wiederholt die 24-jährige Viktoria K. aus der ukrainischen Kreisstadt Ternopil immer wieder. In Karben sind sie bei einer Bekannten untergekommen.
Vor zwölf Tagen sind Viktoria, ihre Mutter Ruslana, ihr Bruder Rostyslav (16 Jahre) sowie ihr Cousin Dmytro (7 Jahre) und dessen Mutter Mariia in Karben angekommen. Ruslana und Mariia sind Schwestern. »Als in unserer Stadt Ternopil im Krankenhaus und auf dem Flughafen die Bomben einschlugen, haben wir die Flucht ergriffen«, berichtet die 24-jährige Viktoria. Zurückgeblieben sind ihr älterer Bruder, die Väter und Großeltern sowie zahlreiche Verwandte. »Wir hatten nur noch Angst«, bestätigt auch ihre Mutter Ruslana.
Mit dem Auto hätten sie sich auf den Weg gemacht. Und obwohl der Krieg in seinen grausamen Ausmaßen zu dem Zeitpunkt noch nicht bis in den westlichen Teil der Ukraine vorgedrungen war, seien alle Straßen zu den Grenzübergängen nach Polen, Ungarn und Moldawien von wartenden Autos verstopft gewesen. Rund 25 Kilometer vor der polnischen Grenze haben die beiden Schwestern nach langen Überlegen den Entschluss gefasst, zu Fuß weiterzugehen, trotz des erst siebenjährigen Dmytro. Überholen mit dem Auto sei nicht möglich gewesen, weil jedem, der dies versucht habe, sämtliche Scheiben zerstört worden seien.
Angst um Verwandte
»Die Angst verleiht unheimliche Kräfte«, fährt Viktoria ihre Schilderung fort. Auch nach Überschreiten der polnischen Grenze sei die Angst geblieben. Allerdings habe der Grund gewechselt. Bis zur Grenze hatten sie Angst vor dem Krieg – und nach dem Überschreiten Angst vor der Zukunft und um die zurückgebliebenen Verwandten. »Unsere Väter und mein Bruder mussten zum Militär und auch mein Großvater hat sich einer zivilen Widerstandsgruppe angeschlossen. Es ist einfach furchtbar, auch wenn wir weiterhin jeden Tag telefonischen Kontakt mit ihnen haben«, berichtet Viktoria. Auch wenn die Trennung von den restlichen Familienmitgliedern den beiden Schwestern schwergefallen ist, so war ihre Situation nicht ganz so aussichtslos wie die der meisten Flüchtlinge, denn sie haben bei ihrer Flucht von Anfang an ein Ziel vor Augen, nämlich Karben.
Dort lebt in Petterweil ihre langjährige Bekannte, die Künstlerin Kerstin Kuntze. Sie war von Anfang an in die Fluchtpläne der beiden Schwestern mit ihren drei Kindern eingeweiht und konnte ihnen deshalb zunächst einmal eine kleine 1,5-Zimmer-Wohnung zur Verfügung stellen.
Zusammen mit dem Niddataler Michael Hahn hat Kuntze die Initiative »Hoffnung 2022« gegründet, mit der sie Flüchtlinge aus der Ukraine unterstützen will. »Wir suchen jetzt ganz dringend, Bürger, die Wohngelegenheiten, sei es in WGs oder in leer stehenden Wohnungen, zur Verfügung stellen können«, bittet Hahn um Unterstützung. Auch werden Personen gesucht, die die ukrainische oder die russische Sprache beherrschen und als Dolmetscher tätig sein können.
Menschen wie Polina Aba, die mit ihrer Familien seit über zehn Jahren in Okarben lebt und bei dem Treffen mit dieser Zeitung die Übersetzung übernommen hat. Gesucht werden »sprachkundige Paten« für die notwendigen Gänge zu den Ämtern, für eventuelle medizinische Versorgung und um die Familien aus der Isolation zu führen. Nein, Kontakt zu anderen ukrainischen Familien haben sie bisher noch nicht gehabt, übersetzt Polina. Aber vielleicht kommt das mit der amtlichen Registrierung in den nächsten Tagen.
Dann müsse auch das Umfeld des Jüngsten, Dmytro, entschieden werden. In dem Alter ist er schulpflichtig. Nicht ganz so große Probleme gibt es mit dem 16-jährigen Rostyslav. Er hat in Ternopil die neunte Klasse besucht und konzentriert sich bereits auf das spätere Jurastudium. »Die Schule läuft bei uns größtenteils online. Deshalb nehme ich jetzt hier auch noch über das Internet am Unterricht teil. Ich bekomme meine Hausaufgaben, mache sie hier und stelle sie dann ins Netz. Das ist kein Unterschied zu Daheim«, berichtet er. In zwei Jahren sei er mit der Schule fertig. Doch bis dahin will er längst wieder zu Hause sein.
Wie übrigens die anderen Familienmitglieder auch. »Ich träume jeder Nacht vom Frieden und will wieder zu meinen Freunden«, meint der kleine Dmytro. Und auf ihren sehnlichsten Wunsch angesprochen, antwortet Viktoria abschließend: »Dass die Nato kommt und eine Flugverbotszone über der Ukraine einrichtet. Nur so hören die Bombenangriffe der Russen auf die zivilen Einrichtungen in unserem Land auf.«
Von Jürgen W. Niehoff