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Auf eigenen Beinen stehen

„Jetzt stehst du auf deinen eigenen Beinen“, sagen wir, wenn jemand sein Leben eigenständig führt. Vielleicht hat er oder sie gerade die Schule beendet, beginnt eine Lehre oder Studium, verdient eigenes Geld oder zieht in eine eigene Wohnung. Ich glaube, viele erinnern sich gut daran, selbst wenn es lange zurückliegt und nach der Freude wohlmöglich Ernüchterung kam. „Auf eigenen Beinen zu stehen“ war aufregend und am Anfang anstrengend, aber vor allem auch schön. Dabei konnte man es wortwörtlich natürlich schon lange.

Wieso gebrauchen wir diesen Ausdruck eigentlich für ein selbständiges Leben? Manchmal ist es gar nicht so einfach, feste zu stehen. Da ist der Boden uneben oder die Schuhe eher schön als bequem. Doch unser Gleichgewicht müssen wir immer wieder finden und dafür muss im Körper, vom Ohr bis zum Fuß (der übrigens ganz viele bewegliche und miteinander verbundene Knochen hat), sehr viel mitwirken. Gerade zu stehen ist nicht immer einfach und im übertragenen Sinne schon gar nicht. Standfest zu sein, aufrecht durchs Leben zu gehen und selbständig zu sein, sind für mich wichtige Ziele, doch manchmal scheitere ich daran.

In der Bibel wird der Prophet Ezechiel von Gott dazu aufgefordert (Kapitel 2, Vers 1) „Stell dich auf deine Füße, Menschensohn; ich will mit dir reden.“ Das war keine Aufforderung zum Aufstehen. Es heißt: Nimm einen Standpunkt ein! Richte dich auf! Steh zu dir und zu deinen Überzeugungen!

Den Religionen wird manchmal vorgeworfen, den Menschen unselbständig zu machen. Hier höre ich das Gegenteil. Das will Gott von uns: Stell dich auf deine Füße.

In Psalm 31 (Vers 9b) steht: „Du (Gott) stellst meine Füße auf weiten Raum“ und da kommt die Bewegung mit ins Spiel. Standfest zu sein, bedeutet nämlich nicht, unbeweglich fest zu stehen. Probieren sie es mal aus. Es ist schwer, die Füße eng nebeneinander zu stellen und dann unbeweglich stehen zu bleiben. Ich werde dabei schnell wackelig. Standfest bin ich am ehesten, wenn ich mir genügend Raum nehme, mein Gleichgewicht immer wieder dynamisch finde und bereit bin loszugehen. So ist es bei den Standpunkten auch. Ich muss wissen wo ich stehe, was mir wichtig ist, aber auch innerlich beweglich zu bleiben, Kompromisse eingehen und auf andere zugehen zu können. Beides gehört zur Standfestigkeit und beides beschreibt für mich auch den Glauben. Das hebräische Wort für „Glauben“ bedeutet „fest zu etwas stehen“, „einen festen Stand einnehmen“.

Ich finde das eine wunderbare Erläuterung zum Glauben: „Stell dich auf deine Füße.“

Pfarrerin Ulrike Mey,

Ev. Christuskirchengemeinde

Bad Vilbel