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Der Augenblick ist mein

Frau S. hatte schon lange keine Familienangehörigen mehr. Ehemaligen Nachbarinnen besuchten sie in ihrem neuen Domizil, einer Seniorenwohnanlage. Aber nach und nach waren die alle gestorben. So waren Besuche bei Frau S. sehr selten. Jetzt aber, an ihrem 100. Geburtstag sollte es anders sein. Der Oberbürgermeister hatte sich angemeldet, Zeitungsjournalisten ebenso. Offizielle Vertreter der Kreisverwaltung und Kirche wurden erwartet. Der Seelsorger vermutete, die Jubilarin würde mit innerer Anspannung an den Geburtstag denken, und bot ihr Hilfe beim Empfang der Gäste an. „Sie sind wohl aufgeregt, wenn Sie an die vielen Gäste denken?“ sprach er seine Besorgnis aus. Und erhielt zu seiner Verwunderung die Antwort: „Nein. Die Besucher sind ja an meinem derzeitigen Befinden gar nicht interessiert. Die werden nach den Verhältnissen der früheren Jahre fragen, nach dem Leben ohne Auto, ohne elektrisches Licht, ohne Fernseher und ohne Telefon. Aber das alles ist doch auch für mich Vergangenheit. Meine Wünsche und Bedürfnisse haben mit meiner Gegenwart zu tun. Hundert Jahre alt werde ich morgen, doch eigentlich habe ich immer nur einen Tag nach dem anderen gelebt. Dass daraus hundert Jahre geworden sind, ändert nichts daran, dass ich noch immer jeweils nur von Tag zu Tag leben kann. So interessiert mich heute, ob ich in der kommenden Nacht ohne Schmerzmittel auskomme und ob morgen die freundliche Schwester wieder da sein wird, die heute beim Waschen geholfen hat.“

Es gehört sicher die Abgeklärtheit eines langen Lebens dazu, den heutigen Tag, den Augenblick als die entscheidende Zeit, vielleicht auch als Geschenk Gottes, als Zeichen seiner Güte und Treue zu werten. Jesus hat es in der Bergpredigt ähnlich gesehen, wenn er uns auffordert, dessen innezuwerden, dass Gott die Vögel unter dem Himmel speist und die Lilien auf dem Felde kleidet. Wie viel mehr wird er auch für unser Leben Sorge tragen. Und die Schlussfolgerung Jesu überrascht nicht wenig: „Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es