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Wie ein T-Shirt Vergessenes ans Licht brachte

Ein aktuelle Episode über eine berühmte Dichterin

Von Jürgen Wagner

Bad Vilbel. Die Wirklichkeit schreibt die verrücktesten Geschichten. Wie diese, die ein Bad Vilbeler erlebte, der seiner Frau ein Weihnachtsgeschenk machen wollte und dabei auf eine unbekannte Episode über eine berühmte Dichterin und den Widerstand gegen die Nazi-Diktatur stieß.

Die Protagonisten wollen nicht namentlich genannt werden, nennen wir sie A und B. Das Ehepaar A und B war im Herbst in der Provence. Zufällig gab es in Sanary, wo sie wohnten, eine Tagung über die Lyrikerin Else Lasker-Schüler samt Lesung mit Gedichten der Künstlerin. Der von der Wuppertaler Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft veranstaltete Abend versprach, interessant zu werden; das wurde er auch, in unerwarteter Weise.
Am Rande der Veranstaltung waren T-Shirts mit Bildern der deutschen Lyrikerin, die auch gemalt hat, ausgestellt. A. kam auf die Idee, eines davon als Geschenk für seine Frau B. zu kaufen. Vor Ort war das nicht möglich, also bestellte er das T-Shirt zu Hause über die Gesellschaft in Wuppertal. Als Lieferadresse gab er Frau P. an, eine Nachbarin im gleichen Haus. Damit seine Frau das Päckchen nicht vor Weihnachten sieht. A. weihte Frau P. ein, dass er es an ihre Adresse bestellt habe.

Drei Pakete und eine skurrile Geschichte
Nach zwei Wochen fragt er nach, ob es mittlerweile angekommen sei. Frau P. verneinte. Also erneute Bestellung, weil das Päckchen offenbar »auf dem Postweg« verloren ging. Nach weiteren zwei Wochen immer noch nichts, und Frau P. hatte auch keine Sendung für A. entgegengenommen. Erneuter Anruf in Wuppertal, es wird langsam unheimlich und peinlich. Wie kann das zweimal schiefgehen? Hat jemand bei der Post ein Faible für Else Lasker-Schüler? Ein drittes T-Shirt wird losgeschickt, diesmal per Einschreiben.

Dann erhält A. eine E-Mail von der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft: Eine Frau P. aus Bad Vilbel habe angerufen und sich gewundert, warum ihr ungefragt drei T-Shirts mit einem Bild von Else Lasker-Schüler zugeschickt wurden. A. ist perplex. Was ist mit Frau P. los? Sie ist doch sonst ganz fit. Er geht ein Stockwerk tiefer und erzählt ihr von der E-Mail aus Wuppertal.

Und nun kommt eine skurrile Geschichte ans Tageslicht: Wie Frau P. erzählte, wunderte sie sich schon über die T-Shirts, habe aber geglaubt, dies sei eine Art Anerkennung der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft. Frau P.s Großmutter hatte in der Nazi-Zeit in ihrer Wohnung in Berlin eine Nichte von Else-Lasker Schüler, Edda Lindwurm, vor den Nazis versteckt, weil sie als jüdisches Mädchen bedroht war. Die Lyrikerin war damals ab und zu bei ihr zu Besuch. Der Großvater von Frau P. musste öfter – und manchmal mühsam – von seiner Frau zurückgehalten werden, als er die Nazis vom Fenster aus beschimpfte und damit das Versteck der jungen Frau gefährdete.

Nach dem Krieg erhielt Frau P.s Großmutter eine kleine jährliche Pension vom israelischen Staat für ihr mutiges Handeln. Diese Pension ging nach ihrem Tod an die Tochter über, Frau P.s Mutter. Als diese vor sechs Jahren starb, wollten deren beide Töchter die Pension nicht in Anspruch nehmen. Sie schickten auch einige Dokumente, die sie bei der Haushaltsauflösung im Haus ihrer verstorbenen Mutter fanden, an einen Gedenkort in Israel.

Als jetzt ein T-Shirt mit einem Bild von Else Lasker-Schüler auftauchte und dann noch ein zweites, dachte Frau P., es handelte sich dabei um eine Anerkennung für die mutigen Taten ihrer Großeltern und einen Abschluss der ganzen Geschichte. Dass die T-Shirts aber gar nicht für sie gedacht waren und es sich um die Bestellung von A handelte, auf diese Idee war sie einfach nicht gekommen. Am Ende konnte A seiner Frau ein schönes T-Shirt als Weihnachtsgeschenk überreichen – zusammen mit einer spannenden Geschichte aus der Vergangenheit. Frau P. und ihre Schwester sind jetzt ebenfalls glückliche Besitzerinnen eines Lasker-Schüler-T-Shirts.

So weit reichen die Schatten der Nazi-Zeit, aber auch der kleinen (und doch nicht so kleinen) Widerstandshandlungen – sie reichen bis in die Wetterau. Und auf diesem Weg haben sich die Nachbarn näher kennengelernt.

Else Lasker-Schüler
»Es ist ein Weinen in der Welt, / Als ob der liebe Gott gestorben wär, / Und der bleierne Schatten, der niederfällt, / Lastet grabesschwer.« Zeilen aus dem Gedicht »Weltende«, das Else Lasker-Schüler um 1903 schrieb. Die Dichterin, geboren 1869 in Elberfeld (heute zu Wuppertal), gestorben 1945 in Jerusalem, ist eine herausragende Vertreterin des literarischen Expressionismus. Ungewöhnliche Metaphern und ein Bruch mit der Tradition zeichnen ihre Lyrik aus: »Komm, wir wollen uns näher verbergen… / Das Leben liegt in aller Herzen / Wie in Särgen.« 1932 mit dem Kleist-Preis geehrt, flüchtete Lasker-Schüler ein Jahr später vor den Nazis über die Schweiz nach Israel. (jw)