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Zu brutal für Kinder? – Märchen-Erzählerin Sophie Rennschmid: „Darstellung darf nie Angst erzeugen“

Sophie Rennschmid, Märchenerzählerin und Pädagogin Foto: Gottschalk
Sophie Rennschmid, Märchenerzählerin und Pädagogin Foto: Gottschalk

 

Alexander Gottschalk im Interview mit Sophie Rennschmid:

Bad Vilbel. Weihnachtszeit ist Märchenzeit. Warum Geschichten um Hexen und böse Wölfe, die verbrannt werden oder im Brunnen landen, für Kinder nicht zu brutal sind und wie man sie richtig erzählt, hat die Pädagogin und Kulturanthropologin Sophie Rennschmid vom Dottenfelderhof unserem Autor Alexander Gottschalk erklärt.

Frau Rennschmid, warum ist es sinnvoll, Kindern Märchen zu erzählen?
SOPHIE RENNSCHMID: Weil sie die Fantasie beflügeln, Vertrauen stärken und Mut und Zuversicht vermitteln. Als Kulturleistung gesehen, geben Märchen Werte und Motive weiter, die in unserer Gesellschaft  wichtig sind – und das gilt für jede Kultur auf der ganzen Welt. Beispielsweise das Teilen, die Nächstenliebe oder der Sieg des Guten. Sie erklären wunderbar unsere Moralvorstellungen und fördern dabei auch die emotionale Intelligenz und die Sprachgewandtheit der Kinder.

Aber sie sind oft voll von Gewalt. Bei Hänsel und Gretel wird eine alte Frau verbrannt, bei Schneewittchen die Heldin vergiftet  bei Rotkäppchen die Oma gefressen. Es gibt Eltern, die deshalb finden, dass Märchen nichts für ihre Kinder sind. Was erwidern Sie?
RENNSCHMID: Ich verstehe das. Aber Kinder nehmen Märchen mit allen Sinnen auf, nicht mit dem Intellekt. Für sie ist das nicht so brutal, wie es für uns Erwachsene klingt. Die Märchen sprechen das große Gerechtigkeitsempfinden der Kinder an. Ja, es gibt das Böse. Aber am Ende gewinnt das Gute. Das zeigen Märchen symbolhaft. Und das ist das Wichtige.

Heißt: Kinder verstehen die Brutalität der Märchen nicht richtig?
RENNSCHMID: Ja. Kinder reden ja auch anders über den Tod als Erwachsene. Wenn man sich als Erwachsener an die Märchen seiner Kindheit erinnert, kann man sich meist nicht an die Details der Geschichten erinnern, sondern an ein Gefühl. Etwa die Geborgenheit, als die Großmutter einem das Märchen erzählt hat. Aber natürlich rührt das Brutale die Kinder auch an. Ein Märchen darf ruhig im Bauch kitzeln, es darf auch gruseln, aber es darf nie Angst erzeugen.

Wie vermittelt man denn brutale Szenen, ohne Kinder zu ängstigen?
RENNSCHMID: Man muss die richtige Atmosphäre erschaffen. Mit Erklären kommt man nicht weit. Am besten kann der Erzähler das Märchen auswendig, damit er während des Vortragens  auf die Kinder eingehen kann. Sieht er, dass die Kinder es zu gruselig finden, weiß er: Ich habe mit zu dunkler Stimme gesprochen oder zu böse geschaut. Dann kann er die Dramatik reduzieren oder eine Pause machen. Das geht auch beim Vorlesen. Bei Hörspielen oder  Filmen klappt das nicht.

Ein Plädoyer für den menschlichen Märchenerzähler also?
RENNSCHMID: Ja. Der Unterschied zwischen Fernsehen oder Hörspiel und einer realen Person ist groß. Es gibt ja Menschen, die beruflich Märchen erzählen. Man kann das lernen. Wie Nachrichtensprecher auch. Ein echter Märchenerzähler schafft für Kinder durch seine Erzählkunst eine Welt, die ein Film nicht erschaffen kann.

Trotzdem: Die Bilder, die er vermitteln muss, sind extrem. Der Wolf bekommt ja keinen Gerichtsprozess. Er wird aufgeschnitten und mit Steinen im Bauch  in den Brunnen geworfen.
RENNSCHMID: Das können Sie nicht so wörtlich nehmen, Kinder sind nicht mit dem Rechtsstaat der Erwachsenen vertraut. Das Märchen appelliert an die Sinneswelt der Kinder. Gut, der Wolf ist jetzt im Brunnen. Aber hey, den Geißlein geht es gut. Und alle sind glücklich. Das Gute hat gesiegt. Es ist das Gefühl, das hängen bleibt.

Sind heutige Märchen im Vergleich zu alten Versionen weichgespülter?
RENNSCHMID: Das ist unterschiedlich. Disney-Filme etwa schnappen sich die Motive der Märchen und lassen sie in der Tat sehr weich werden. Es gibt aber auch heute noch Bücher mit den Originalversionen. Die grausamsten Szenen kann man jedoch immer weglassen. Überhaupt passen sich Märchen ja immer an – erschienen sie einer Gesellschaft nicht plausibel, wären sie nicht erfolgreich. Auch die Brüder Grimm mussten sich die Geschichten erst erzählen lassen. Manche ihrer Motive lassen bis ins Italien des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen.

Gibt es Märchen, die Sie nicht erzählen?
RENNSCHMID: Nein, aber ich wähle Märchen danach aus, ob sie zur Jahreszeit passen und wie alt die Kinder sind. Und wenn ich beim Erzählen aus irgendeinem Grund merke, dass die Geschichte nicht gut ankommt, mache ich nicht auf Biegen und Brechen weiter. Aber ich erzähle lieber Volksmärchen als Kunstmärchen.Die Adventszeit ist ja auch Märchenzeit. Was ist denn Ihr Lieblingsmärchen zu Weihnachten?
RENNSCHMID: Ich mag die klassischen Märchen. Zum Beispiel Sterntaler. Das behandelt viele schöne Motive: Das Teilen, die menschliche Wärme oder natürlich die Liebe. Das sind ja auch die Motive der Weihnachtszeit.

Die gebürtige Frankfurterin Sophie Rennschmid   arbeitet auf dem Schulbauernhof des Dottenfelderhofs und lässt sich nebenbei zur Waldorf-Pädagogin ausbilden. Sie wohnt in Dortelweil  hat einen zweieinhalbjährigen Sohn, den sie noch zu jung für Märchen hält.Bald will sie ihm aber ihr Lieblingsmärchen erzählen: »Die Lebenszeit« von den Brüdern Grimm.