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„Adressat unbekannt!“ – Eine niederschmetternde Geschichte über Leben und Tod in szenischer Lesung

Zu einem außergewöhnlichen Abend hatte die evanglische Christuskirchengemeinde am Volkstrauertag eingeladen. In einer theatralischen Lesung des fiktiven Briefromans „Adressat unbekannt“ von Kressmann Taylor erinnerten die Pfarrer Ingo Schütz aus Bad Vilbel und Fabian Vogt aus Oberstedten an das Grauen des Dritten Reiches und an die Opfer der Nationalsozialisten. Musikalisch umrahmt wurde die Lesung im abgedunkelten Saal von Musikschülerin Valentina Gorelov (16) mit drei Musikstücken an der Harfe.

Bad Vilbel. „Adressat unbekannt“ lautet der düster-lakonische Titel des 1938 im amerikanischen Magazin „Story“ erstmals veröffentlichten, fiktiven Briefwechsels zwischen dem Christen Martin Schulse (gelesen von Ingo Schütz) und seinem jüdischen Freund Max Eisenstein (Fabian Vogt). Das seit Jugendtagen befreundete Duo betrieb in San Fancisco eine florierende Kunstgalerie, bis Schulse kurz vor Hitlers Machtantritt nach München zurückkehrt.

Autorin Kathrine Taylor arbeitete als Werbetexterin. Sie veröffentlichte „Adressat unbekannt“ unter ihrem Mädchennamen „Kressmann“ und Nachnamen „Taylor“. Das Cover der ersten Buchausgabe von 1939 ziert ein täuschend echt faksimilierter Briefumschlag. Darunter sind 18 bewegende Briefe, datiert zwischen dem 12. November 1932 bis zum 3. März 1934, und ein Telegramm vom 2. Januar 1934, abgedruckt.

Ingo Schütz und Fabian Vogt lasen diese abwechselnd vor. Kathrine Taylor hat auf den gerade einmal 40 Seiten der vor 13 Jahren erschienenen deutschen Ausgabe das kommende Unheil der Pogrome vorweggenommen. Und widerlegt damit alle, die von nichts gewusst haben wollen. „Nie wurde das zersetzende Gift des Nationalsozialismus’ eindringlicher beschrieben. „Adressat unbekannt“ sollte Schullektüre werden, Pflichtlektüre für Studenten, es sollte in den Zeitungen abgedruckt und in den Cafés diskutiert werden“, schrieb Elke Heidenreich im Nachwort der deutschen Ausgabe.

Kathrine Taylor schildert dramatisch knapp, wie die Freundschaft zwischen Martin und Max zerbricht. Martin steht Hitler zwar anfangs skeptisch gegenüber: „Max nur dir allein kann ich eingestehen, dass ich zweifle“. Doch dann schließt er sich den Nationalsozialisten an, gelangt zu Ämtern und Würden. Ablesbar ist seine veränderte geistige und moralische Haltung in den Anreden, Grüßen, am Ton und der Sprache der Briefe.

Die beklemmende Botschaft der Briefe erfasste die 80 Zuhörer im Saal. Sie werden Zeuge, wie Martin seinen Freund Max auffordert, von jedem weiteren Kontakt Abstand zu nehmen, da es ihm „unmöglich (ist) mit einem Juden zu korrespondieren.“ Denn „Die jüdische Rasse ist ein Schandfleck für jede Nation, die ihr Unterschlupf gewährt“ und „Du bist in erster Linie Jude!“

Sie schrie nicht mehr!

Dennoch wendet sich Max Eisenstein in mehreren Briefen aus Sorge um seine Schwester Griselle, die als Schauspielerin in Berlin gastierte, bis sie wegen ihres jüdischen Aussehens von der Bühne verjagt wurde, an Martin. Das Einzige, was Max nach zwei Monaten von seiner Schwester aus Berlin erhält, war ein zurückgesandter Brief mit dem Stempel „Adressat unbekannt!“ Martin reagiert nicht auf die Bitten von Max. Dann trifft ein am 8.12.1933 datierter Brief aus München in Kalifornien ein: „Heil Hitler! Ich bedauere sehr, dir schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen. Deine Schwester ist tot.“ Griselle habe ihn um Schutz und Obdach gebeten. Von SA-Leuten verfolgt, sei sie bis an seine Haustür gelangt, wo er sie aus Sorge um Elsa und die Kinder abgewiesen habe: „Ich gehe ins Haus, und nach wenigen Minuten hört sie auf zu schreien.“

Mit Erhalt dieser Nachricht beginnt Maxens Rache an Martin. Er schickt weitere Briefe an dessen Privatadresse, täuscht ein Komplott vor, wohl wissend, dass der Geheimdienst mitliest.

Martin wird zur Rechenschaft gezogen. Er teilt seinem „alten Freund“ Max verzweifelt mit, dass er wegen ihm beziehungsweise seinen Briefen in großer Not stecke. Es werde vermutet, dass Martin Agent einer jüdischen Widerstandsorganisation sei. „Ich fürchte um mein Leben, Max, um mein Leben. Bist du es, der das tut?“, appelliert er an seinen Freund. Der ist sich der vernichtenden Auswirkungen seiner Briefe bewusst. Und sendet drei Tage später einen weiteren Brief an Martin ab. Der kommt am 3. März 1934 ungeöffnet mit dem Stempel „Adressat unbekannt“ zu ihm zurück.