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Alle sollen wissen, wie es war – Sigrid Malempré schreibt in ihrem Buch über Erlebnisse in Ostpreußen im Zweiten Weltkrieg

Karben. Noch heute kann Sigrid Malempré den Winter nicht ausstehen. Die Kälte erinnert sie an die schlimmste Zeit in ihrem Leben. Die begann im Januar 1945. Die Rote Armee marschierte in Ostpreußen ein. Mitten in der Nacht bei minus 20 Grad. Draußen liegt Schnee, als die Vierjährige mit ihrer Mutter aus ihrem Haus fliehen muss. Auf dem Weg zu einem Flüchtlingsschiff werden sie von den Russen gestoppt. In diesem Moment beginnt ihr fünfjähriges Martyrium.

Lange hat es gedauert, bis die Klein-Karbenerin über ihre Erlebnisse reden konnte. Selbst gegenüber ihrer Familie hat sie lange geschwiegen. Mit ihrer Mutter kam es nie dazu. Erst jetzt, zwölf Jahre nach deren Tod, hat sie die Kraft gefunden, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Aus der Sicht des Kindes, das sie damals war. „Flintenweib“ heißt das schmale Büchlein von 83 Seiten, das der Wagner-Verlag herausgebracht hat. „Alle sollen wissen, wie es war“, sagt Sigrid Malempré. „Für die Nachwelt. Damit so etwas nicht wieder passiert.“

Ihre Geschichte beginnt in Balieth, einem kleinen Vorort von Königsberg. Für Sigrid Malempré war er noch im Juni 1944 „der schönste Ort der Erde“, ein kleines grünes Idyll. Nach dem Absturz eines Flugzeugs direkt vor ihrem Haus, sieht sie als Vierjährige zum ersten Mal tote Menschen. Immer mehr Lastwagen voll mit Leichen rollen durch die kleine Stadt, die Luftangriffe nehmen zu. Eine Gasmaske liegt stets griffbereit neben dem Kopfkissen. Als die Angriffe und der Hunger immer schlimmer werden, wollen sie in Richtung Ostsee fliehen. Ihnen wurde eine Passage, die Flucht per Schiff, versprochen. Doch die Russen stoppen den kleinen Tross und treiben ihn zurück. Die wenigen Männer werden erschossen, die Frauen vergewaltigt. „Diese Schreie höre ich heute noch“, schreibt Malempré. Wenige Tage später holen die Russen alle Menschen zusammen zu einem großen Treck, der Richtung Osten getrieben wird. Es ging nur darum, sie von der Flucht abzuhalten.

Nachts schlafen die Menschen in alten Scheunen oder legen sich zwischen die wärmenden Tierkadaver. Immer wieder werden Frauen überfallen. Die Kinder müssen alles mitansehen. „Ein Wunder, dass wir das überlebt haben“, sagt Malempré heute. Als der Treck zerfällt, laufen die kleine Sigrid, ihre Mutter und einige Verwandte zurück nach Königsberg. In ihrem alten Bauernhof leben jetzt russische Familien. Aus Mitleid gewähren sie den ehemaligen Bewohnern Unterschlupf. Was folgt, ist eine sehr trostlose Zeit.

Auf eine sehr direkte Art gibt Sigrid Malempré wieder, woran sie sich nach mehr als 60 Jahren noch erinnert und was sie lange in sich weggeschlossen hatte. Manches, wie die Erinnerung an eine Freundin, mit der sie gerne spielte, gibt sie detailreich wieder. Andere Stellen wirken stark gerafft. Zusammen ergibt sich ein ehrlicher und sehr persönlicher Blick auf die Zeit von 1944 bis 1949 im damaligen Ostpreußen. Eben „so wie es aus mir rauskam“, hat sie es notiert.

Sie hat ihre Geschichte erst nach über 60 Jahren in mehreren Mauritius-Urlauben am Strand geschrieben, den Blick des Kindes, das sie zu dieser Zeit war, hat sie sich aber erhalten. Lange hat sie ihre Gedanken mit viel Arbeit verdrängt. Sie war in einem Schuhgeschäft, später dann als Kosmetikerin tätig.

Der Mutter zweier Kinder sieht man ihre 70 Jahre nicht an. Wenn sie über ihre Erinnerungen spricht, wirkt sie keineswegs wütend, nicht mal traurig. „Ich bin nicht verbittert. Ich bin dankbar für alle Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe“, sagt sie. Die guten wie die schlechten. Mit ihrem Mann ist sie viel in ferne Länder gereist. Sie sei ein starker Mensch, sagt sie. „Ich habe noch so viel vor.“ Eine Kämpferin, die deswegen schon als Kind „Flintenweib“ genannt wurde.

Dass sie das Buch geschrieben hat, gibt ihr zusätzlich Kraft. Auch wenn Freunde ebenso wie ihr Sohn, der den Text redigiert hat, erschüttert waren. Sie hat geschafft, was ihre Mutter nie konnte. Sich von ihren Erinnerungen ein wenig frei zu reden. (zlp)