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Erinnerte Reime-Alzpoetry: Schüler tragen demenzkranken Altenheimbewohnern Verse vor

Nidderau. Wilhelm Busch kennen alle, und auch die ersten Verse von Schillers „Lied von der Glocke“ sitzen noch, obwohl sie vor etwa sechzig Jahren mal gelernt wurden. Oder vielleicht gerade deshalb? Seit Mitte Februar kommen die Jugendlichen einmal wöchentlich ins Seniorenwohnheim der AGO Nidderau, wo sie sich unter der Leitung des Marburger Slam-Poetry-Künstlers Lars Ruppel auf ihren Gedichtvortrag vorbereiten. „Die richtige Betonung ist wichtig, ihr müsst deutlich und vor allem schön laut sprechen“, schärft er den Schülerinnen und Schülern ein. Die Acht- und Neuntklässler haben zu Hause bereits Gedichte ausgewählt, die sie an diesem Nachmittag vortragen wollen. Das Lampenfiebergespenst verscheucht Lars Ruppel mit spaßigen Sprech- und Atemübungen. „Okay, die Nummer steht“, konstatiert Ruppel nach einer knappen halben Stunde Sprachtraining und begleitet die jungen Leute in den benachbarten Saal, wo sie fast zwanzig ergraute Herrschaften bereits gespannt erwarten.

Nach einer Runde fröhlichen Händeschüttelns startet der generationenübergreifende Gedichteplausch, der für Augenblicke den Nebel des Vergessens durchdringt, Leben und Lachen in runzlige Gesichter zaubert und müde Augen zum Leuchten bringt. „Wer weiß, wie es weitergeht?“, ruft Lars Ruppel und wirft einen Vers, einen Gedichtanfang in die Runde. Die Antwort kommt wie auf Knopfdruck, im Chor rezitieren die Seniorinnen altbekannte Spruchweisheiten und Volksliedtexte, die aus der Erinnerung hervorbrechen.

So eingestimmt, lassen sich die Zuhörerinnen beim anschließenden Gedichtvortrag der Schüler voller Begeisterung zum Wiederholen ganzer Textpassagen animieren. Allen gemeinsam ist die offensichtliche Freude, die die Poesie der Worte beim Zuhören und Rezitieren auslöst.

Und selbst wenn schon eine halbe Stunde später die meisten der Heimbewohner die Begegnung mit den Jugendlichen vergessen haben, so wirkt die positive Stimmung doch lange nach, wie Heike Müller, Leiterin des sozialen Dienstes der AGO, betont. „Das gemeinsame Sprechen, der Kontakt mit den jungen Menschen, das alles wirkt wie ein Antidepressivum auf unsere Demenzpatienten“. Sie ist begeistert von dem Alzpoetry-Projekt, das die Schule mit dem Seniorenzentrum und der evangelischen Kirche durchführt. Idee und Konzept des „Alzpoetry“ stammen von dem Schriftsteller Gary Glazner, der es seit 2004 in den USA mit Erfolg durchführt. Seit zwei Jahren ist Lars Ruppel Projektleiter von Alzpoetry Deutschland. (zlp)