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Virtueller Glaube? – Das Wort zum Sonntag

Wenn Sie dieses Wort zum Sonntag lesen, dann sind es nur noch 68 Tage bis Weihnachten. Ich weiß nicht, ob Sie sich darüber schon Gedanken gemacht haben; der Einzelhandel hat es jedenfalls gemacht, und so stehen schon seit der letzten Septemberwoche Christstollen, Lebkuchen und Zimtsterne zusammen mit anderen Weihnachtsleckereien in den Supermärkten. „Der Tag wird kommen“, so dachte ich, als ich das wahrnahm, „an dem die Schoko-Osterhasen einen nahtlosen Schichtwechsel mit ihren Nikolaus-Kollegen (und umgekehrt) vollziehen werden“.

Unter den ganzen Weihnachtsaccessoires finden sich auch immer wieder mal Dinge, von denen man nie geträumt hätte, dass es sie geben könnte. Ein Kollege von mir entdeckte unlängst in einem Katalog ein Raumspray mit der Duftrichtung „Weihnachtskeks“. Der Begleittext zu dem Artikel sagte in etwa Folgendes: „Wenn Sie in der Weihnachtszeit mal keine Zeit zum Backen haben, aber trotzdem nicht auf den leckeren Keksduft verzichten wollen, bitte: Keksspray“. Ein Druck auf die Düse, und schon schwebt der Duft von Lebkuchen, Spekulatius und Vanillekipferln durch den Raum. Kurz: Man erweckt den Eindruck, dass in der Wohnung etwas vorhanden sei, was in Wirklichkeit gar nicht da ist. So was nennt man „virtuelle Realität“.

„Als virtuell gilt die Eigenschaft einer Sache, die nicht in der Form existiert, in der sie zu wirken scheint, aber in ihrem Wesen und ihrer Wirkung einer real existierenden Sache gleichartig ist“, so sagt das Lexikon. Und wir leben nun mal in einer virtuellen Welt: Dinge, die uns vorgegaukelt werden, die aber in der Realität nicht existieren, ob bei Artikeln wie dem Keksspray, im TV oder auf dem Computer. Virtuelle Realität macht das Leben bequemer (weil sie uns die gewünschten Bilder und Effekte liefert) aber gleichzeitig auch ärmer (weil sie uns die wirklichen Lebenserfahrungen vorenthält). Und manche Leute leben sogar in einer „virtuellen Welt“, d.h. sie haben sich so sehr in einer künstlichen Welt aus Vorurteilen und Lebenslügen eingerichtet, dass sie irgendwann selbst glauben, diese Welt sei die reale.

„Wenn ihr euch nach meinen Worten richtet, dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen“, so sagt Jesus im Johannesevangelium zu seinen Jüngern. „Wahrheit“ ist ein ganz zentraler Begriff des christlichen Glaubens. Jesus möchte die Menschen aus der virtuellen Welt in die reale führen, er will uns frei machen von Selbsttäuschung, Vorurteilen, vom Dünkel, das Leben selbst im Griff zu haben.

Er hält uns die Realität unseres Lebens vor Augen – und macht uns dadurch frei, weil wir ihm gegenüber nicht versuchen müssen, jemand anders zu sein, als der (oder die), der wir sind. Aus der Virtualität in die Realität sozusagen. Einer der wichtigsten Schritte, die ein Mensch des 21. Jahrhunderts in seinem Leben machen kann.

Rolf Schwärzel

Pastor der Freien Evangelischen Gemeinde Bad Vilbel